Mit einer "Eule" machte sie sich vor wenigen Wochen von Frankfurt aus auf
den Weg zu den Olympischen Spielen nach Athen, die Hockeynationalspielerin Silke
Müller. Dekoriert mit "Gold" kam sie zurück. Die 25-jährige vom Rüsselsheimer RK
gehörte in den vergangenen Jahren auch zum Mitarbeiterstab des Landessportbundes
Hessen. Für "Sport in Hessen" hat das Energiebündel aus Frankfurt ihre
Erinnerungen an die aufregenden Tage bei Olympia in einem Tagebuch festgehalten
und lässt uns damit ein wenig teilhaben an den Freuden und Leiden einer
Spitzensportlerin auf dem Weg hin zu ihrem bisher größten sportlichen Erfolg.
10.08.2004: Verabschiedung am Flughafen in Frankfurt. Wir erhalten Eulen,
ein Brauch, der Glück bringen soll. Schau´n wir mal. Beim Einzug ins Olympische
Dorf sind wir neugierig und inspizieren die neue Umgebung. Alles ist gespannt,
wie weit die Griechen nun vorangekommen sind. Wie wird alles ablaufen? Werden
wir sicher und pünktlich unsere Wettkampfstätten erreichen? Und was hat es mit
der "Olympic Lane" auf sich? Wir schmücken unsere Häuser von Innen wie von
Außen. Die in einer wagemutigen Aktion auf einer Brüstung vor unseren Balkons
aufgestellte Eulenreihe ist unser ganzer Stolz. Unsere direkten Nachbarn sind
die Deutschen Handball-Jungs und die Dänischen Handball-Mädels. Herzlich
Willkommen. Die Vorfreude auf dieses große Ereignis ist riesig.
13.08.2004: Tag der Eröffnungsfeier, die leider für uns sowie für viele
andere Athleten "ausfällt". (Wettkampf am nächsten Tag). Wehmütig schauen wir
unseren Herren hinterher, als sie das Haus verlassen (sie spielen erst einen Tag
nach uns). Für die deutschen Athleten wird spontan eine Leinwand aufgebaut. Dort
verfolgen wir zusammen mit den anderen "Leidtragenden" das Spektakel. Highlight
des Abends: unsere Handball Jungs, die ihren eigenen Einlauf in voller Montur
samt Fähnchen initiieren und so um die deutschen Häuserblocks marschieren. Die
Stimmung wird so zumindest ein bisschen gehoben. Eines steht fest: die
Eröffnungsfeier ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil zur Motivation eines
jeden Athleten!!
14.08.2004: Gleich das erste Spiel geht gegen Australien, bis dahin seit
Jahren bei olympischen Spielen ungeschlagen. Gelingt uns eine Sensation? Mit
Kampf, Biss und gutem Hockey gewinnen wir das Spiel verdient mit 2:1, und
begeistern somit nicht nur die Nicht-Australischen Fans, sondern auch die
Zuschauer zu Hause vor dem Bildschirm, denn das ZDF überträgt das Spiel fast
komplett. Welch eine Werbung für den Hockeysport!
Leider können wir unser gewonnenes Selbstvertrauen nicht in das nächste Spiel
einbringen, denn dazwischen liegen drei lange Tage Pause. Bis dahin „das
Übliche“: Training, Regeneration, Essen und die damit verbundene Ausschau nach
den "Stars“ in und rund um die Mensa. Es ist schon aufregend, auf einmal mit all
den anderen "Großen“ am selben Tisch zu sitzen, in der selben Schlange zu stehen
und zu merken, dass es auch nur Menschen sind, die genau wie wir Hunger und
Durst haben.
Und zu guter Letzt feuern wir mit Pauken und Trompeten unsere Handball-Jungs
beim Spiel gegen Ägypten an , welches sie klar für sich entscheiden. Ein Tag als
Fan ist mindestens genauso aufregend. Bevor wir die Handballhalle überhaupt
erreichen, begeben wir uns aber erst einmal auf eine "Irrfahrt“. Unser Busfahrer
hält an sämtlichen anderen Sportstätten, da er 1. meint, es würden noch andere
Interessierte hinzusteigen, und 2. er kein Wort versteht, von dem was wir
versuchen ihm mit Händen, Füßen, kreischend oder kopfschüttelnd zu vermitteln.
Aber die Griechen geben sich alle Mühe, damit sich die Besucher auch wirklich "Welcome
Home“ fühlen. Statt Lautsprechern entdecken wir an jeder Ecke der riesigen
Sportanlagen nette Menschen samt Megafon auf einem "Bademeister-Stuhl“ sitzend
und von morgens bis abends immer wieder die selben Sätze von sich gebend.
Olympia strengt an!!
18.08.2004: Der Klassiker! Wir treten an gegen die hoch favorisierten
Holländerinnen - und setzen das Spiel mit 1:4 gewaltig in den Sand. Weniger ist
es die Niederlage, die uns ärgert, vielmehr die Art und Weise. Aber eigentlich
haben wir keine Zeit, uns zu ärgern. Das nächste Spiel wartet schon. Und wie
hätte man es besser sagen können, als mit den Worten von Dr. Müller, dem
Präsidenten des Landessportbundes Hessen, der zusammen mit seiner Gattin den
Schritt ins Stadion gewagt hatte: "Ein Müller gibt nicht auf!“
20.08.2004: Tag der Vorentscheidung, mit einem Sieg gegen Südafrika können wir
die Tür zum Halbfinale öffnen. Was tun wir? Wir gehen gegen den gleichwertig
geglaubten Gegner mit 0:3 unter. Fassungslosigkeit und Enttäuschung über die
eigene Unfähigkeit machen sich in unseren Gesichtern bemerkbar. Für einen Moment
scheint die Welt unter zu gehen. War das etwa schon alles?
Wir haben genau einen Tag Zeit, um uns von der Blamage zu erholen!
22.08.2004: Die letzte Chance gegen die wieselflinken Koreanerinnen. Und
das an einem Sonntagmorgen um 7:30 Uhr deutscher Zeit. Wird uns die Uhrzeit zu
schaffen machen, oder das "Gerenne“ der "Koris"? Am Ende fassen wir uns ein Herz
und rennen, als wäre es das letzte Spiel. Mit diesem Sieg ziehen wir nicht nur
unseren Kopf aus der Schlinge, sondern auch das Ticket fürs Halbfinale. Wir
haben bereits jetzt eine kleine Sensation geschaffen.
Es ist noch einmal alles gut gegangen, und wir müssen definitiv nicht um den
undankbaren letzten Platz spielen.
Mensabekanntschaft – Mit Hicham El Guerrouj auf du und du. |
Mensabekanntschaft – Mit Jan Ullrich auf du und du. |
23.08.2004: Unsere süßen, kleinen Eulen entdecken wir an der
gegenüberliegenden Hauswand. An einem Strick, teilweise sogar mit verbundenen
Augen hängen sie da. Was ist geschehen?
Unsere Hockeyjungs haben sich wohl mit den gegenüber wohnenden (Handball)
Däninnen eine von vielen heftigen Wasserschlachten geliefert. Daraufhin haben
sich die lieben Däninnen aus Rache an unseren Eulen vergriffen. Spätestens jetzt
sind auch wir auf "180" und klinken uns gerne in das feuchtfröhliche Geschehen
ein.
Man steht hier sonst ständig unter Spannung, so dass Ereignisse wie diese
einfach wichtig sind und letztendlich den Unterschied zwischen einer normalen
Meisterschaft und Olympischen Spielen ausmachen.
24.08.2004: Halbfinale!! Wer bitte hätte das gedacht. Vor ein paar Tagen noch
vor dem Abgrund, und jetzt mindestens Platz 4 der Welt. Wow! Es herrscht eine
riesige Vorfreude.
Unser Gegner sind die Chinesinnen, die wir mittlerweile kennen wie unsere
Westentasche, so oft haben wir in den letzten Wochen gegeneinander gespielt. Und
unser Gefühl ist gut. Ab jetzt gilt nur noch das Motto "Alles auf eine Karte
setzen, wir haben nichts mehr zu verlieren!"
Wir spielen wieder, als sei es das letzte Spiel. Die Tatsache, dass es leichter
ist, Silber statt Bronze zu gewinnen motiviert uns bis in die Haarspitzen. Und
wir schaffen die zweite Sensation. Wir stehen im Finale. Wir freuen uns, als
hätten wir bereits Gold, und ich stelle mir an diesem Abend mehrfach die Frage,
ob dieses Gefühl überhaupt noch zu toppen ist.
Jede von uns schläft an diesem Abend vor lauter Aufregung zwar spät, aber dafür
glücklich und zufrieden ein.
26.08.2004: Der schönste Tag - Olympisches Finale − Traumspiel gegen Holland.
Ich laufe mittags im olympischen Dorf an einem Bus vorbei. Am Fenster hängt ein
Plakat, auf dem die griechischen Fußballer abgebildet sind. Abergläubisch wie
ich nun ´mal bin, ist alles was ich zu meiner Teamkameradin sage: "Du, wir
gewinnen heute!"
Und am Abend sage ich mir immer wieder: "Genieß´ es da raus auf den Platz zu
gehen. Dein großer Traum ist jetzt schon wahr geworden. Du stehst in einem
Olympischen Finale." Alle harte Arbeit und Entbehrungen haben sich ausgezahlt.
Doch es gibt noch einen größeren Traum − Gold. Und eines ist klar. Wenn du schon
mal die Chance hast, dann musst du sie nutzen. So etwas kommt vielleicht nicht
noch einmal. Also spiel´ bis du umfällst und hol dir das verdammte Gold!
Gesagt getan, David besiegt Goliath, wir sind die Helden Athens. Die
unglaubliche Geschichte der Fußball-Griechen gleicht der unseren. Wie sagt
unsere Kapitänin später in einem Interview? "Wir sind die Wundertüten, und heute
ist was ganz Feines dabei rausgekommen!"
Der Jubel kennt keine Grenzen. Zusammen mit all unseren Fans, teilweise nur für
das Endspiel angereist, machen wir die Nacht zum Tage und verwandeln das
Deutsche Haus in eine Open Air-Disco.
Die meisten finden erst bei Sonnenaufgang den Weg zurück ins Dorf. Zum einen,
weil Feiern eben so schön sein kann. Zum anderen weil viele Taxifahrer gar nicht
aus Athen kommen, und somit genauso wenig Ahnung vom Weg haben wie wir. Sei´s
drum. An solch einem Tag schaut man gerne über vieles hinweg.
Die letzten Tage bestehen freilich meist aus Feiern, wenig schlafen,
gelegentlich essen, traditionellem Klamotten-Tauschen und der Vorfreude auf "zu
Hause". Was wird uns dort wohl erwarten?!
Am Ende sind diese Olympischen Spiele wie in Windeseile verflogen. Athen hat es
toll hinbekommen, mal abgesehen von den nur kläglich bepflanzten Außenanlagen im
olympischen Dorf. Das Wichtigste war jedoch, dass wir immer pünktlich zu unserer
Spielstätte und wieder zurück kamen.
Für mich als Sportlerin ist es die größte Erfahrung, die ich machen konnte, aber
längst nicht nur des Ereignisses wegen. Ich bin hier das erste Mal nicht nur an,
sondern wirklich über meine Grenzen gegangen, vor allem mental. Und ich bin
stolz auf diese Mannschaft. Wir haben immer an uns geglaubt, egal zu welchem
Zeitpunkt des Turniers. Vor Athen sagte mir einmal jemand, bei Olympia
herrschten andere Gesetze. Jetzt weiß ich, was damit gemeint war. Der Glaube ist
alles was zählt. Und – nichts ist unmöglich!