Von Manfred
Schelbert (aus "https://www.wiesbadener-kurier.de" vom 5. September 2022)
SCHLANGENBAD. 1972,
Olympische Spiele in München. Heitere Spiele, Spiele, die viele nicht vergessen
werden. Vor allem die Athleten, die damals an den Start gingen. Athleten, wie
zum Beispiel Norbert Kindlmann. Ruderer, jung, dynamisch. Übrigens ein echter
Biebricher Bub, Jahrgang 1944, Ruderer mit Leib und Seele. Noch heute, wenn man
sich mit ihm unterhält. "Natürlich waren die Olympischen Spiele der Höhepunkt
meiner Karriere", erläutert er. Ob auch erfolgreich oder nicht, darauf kommen
wir noch zu sprechen.
Bei der EM "die
einzige Boje im ganzen Hafen" erwischt
Kindlmann, ein
Stern, der erstmals 1965 in der Ruderszene zu leuchten begann. Der damals
21-Jährige startete bei den Deutschen Meisterschaften in Mannheim gemeinsam mit
Joachim Wincierz für die Rudergesellschaft Biebrich im Zweier ohne Steuermann.
18 Boote waren damals am Start. "Heute undenkbar", behauptet Kindlmann und hat
wahrscheinlich recht. Bis zum Endlauf lief es wie geschmiert für die beiden
Wiesbadener. "Dann erwischten wir im Endlauf die einzige Boje, die im
Mühlau-Hafen lag", bringt Kindlmann das Dilemma auf den Punkt. Aus, vorbei. Am
Ende steht Platz fünf in der Ergebnisliste. Was bleibt, ist nur der erstmalige
Kontakt mit Wolfgang Hottenrott, Olympia-Dritter von Tokio 1964. Ein Kontakt,
der nie abriss.
Sieben Jahre
später, 1971, wurde Kindlmann bei den nationalen Titelkämpfen in Duisburg
gemeinsam mit Bernhard Hiesinger für Hassia Hanau Vizemeister im Zweier ohne und
Dritter im Zweier mit Steuermann. Ein Ergebnis mit Folgen, wurde doch Norbert
Kindlmann im darauffolgenden Herbst von Trainerlegende Karl Adam nach Ratzeburg
eingeladen. Gemeinsam mit Wolfgang Hottenrott aus Hannover sollte sich Kindlmann
im Zweier ohne für das Großboot qualifizieren. "Ich bin deshalb für die
Vorbereitung an jedem Samstag nach Hannover geflogen", erinnert sich Kindlmann.
Dort wurden am Wochenende täglich 30 Kilometer gerudert und am Sonntagabend flog
Kindlmann wieder nach Frankfurt zurück. "Heute wäre so etwas undenkbar", ist
sich Kindlmann sicher. Doch es lohnte sich, beim entscheidenden
Ausscheidungsrennen in Lübeck war das Duo haushoch überlegen. Und auch der
Achter etablierte sich in den folgenden Rennen als einer der Goldfavoriten für
die Olympischen Spiele in München.
Bis, ja bis in der
finalen Vorbereitung einige Dinge schief gingen. "Eigentlich hatte Karl Adam
keine Ahnung vom Rudern", postuliert Wolfgang Kindlmann. "Seine Kompetenz
fundierte auf Physik und Mathematik." Dazu starb Adams Tochter vier Wochen vor
Olympia, was den bekannten Trainer natürlich aus dem Gleichgewicht warf.
Viel gravierender
waren jedoch andere Fehler. Die großen Erfolge errang der Deutschland-Achter in
einem Holzboot. Der bekannte Designer Luigi Colani sollte jedoch für das
Olympiarennen ein Kunststoffboot konstruieren. "Das", so Kindlmann, "sollte dann
der Welt davonfahren." Das Boot lag schließlich in seiner ganzen Pracht in
Münster in einem Wasserschloss, doch die Crew war im Höhentrainingslager am
Silvretta-Stausee. "Also musste Colani nach Innsbruck fliegen, um die
individuellen Maße der Ruderer an das Boot abzunehmen", erinnert sich Kindlmann
und denkt mit Grauen an das weitere Chaos. "Die neuen Sitze passten nicht, sie
liefen auf drei Schienen, brachen beim Rudern aus." Dazu kamen auch Fehler bei
der Vorbereitung am Silvretta-Stausee. Die Trainingseinheiten zehrten so stark
an den Ruderern, dass diese körperlich abbauten. "Im Februar wog ich noch 95
Kilo, bei Olympia waren es noch 88."
Dafür begannen die
Wettbewerbe in München noch erstaunlich gut. Über den Vorlauf qualifizierte man
sich für das Halbfinale, das man dann sogar gewann, allerdings im alten Boot. Im
Finale sollte dann das neue Wunderboot die Konkurrenz schocken. "Doch geschockt
waren nur wir", lästert Kindlmann. Denn Karl Adam hatte sich für längere Riemen
entschieden. Die waren jedoch kontraproduktiv für den Gegenwind, der beim Finale
aufkam.
Beim
Startvorgang einen Leistenbruch zugezogen
Für Wolfgang
Kindlmann war der Druck auf den Riemen dann so stark, dass er sich beim
Startvorgang einen Leistenbruch zuzog. Bis zur 1.750-Meter-Marke gab es dann
hinter den enteilten Neuseeländern einen Bord-an-Bord-Kampf zwischen den Booten
der USA, DDR, UdSSR und dem Deutschland-Achter. Im Finale fehlte den
bundesdeutschen Recken dann die Kraft. "Das war dann so, als ob ich mit einem
Hollandrad ohne Gangschaltung nach Alpe d´Huez hinaufklettern will." Was blieb,
war Platz fünf und eine große Enttäuschung. "Nimmt man die Ergebnisse aller
Regatten zuvor, so wäre mindestens eine Bronzemedaille immer drin gewesen", ist
sich Kindlmann sicher. Wenn, ja wenn da nicht die vielen Fehlentscheidungen
gewesen wären. Dennoch seien für ihn die Olympischen Spiele in München ein
Mega-Ereignis gewesen, das er nie vergessen werde. Was bleibt, ist die Frage,
warum Kindlmann statt des Achters nicht mit Hottenrott im Zweier ohne gestartet
wäre. "Der Achter ist aber im Rudern einfach das Nonplusultra und wurde außerdem
noch finanziell unterstützt", rechtfertigt er seine Entscheidung.
Nach den
Olympischen Spielen pausierte Kindlmann zunächst für ein Jahr, ehe er wieder
aktiv ruderte und 1974 und 1975 erneut Deutscher Meister wurde. "Danach bin ich
nur noch im Opa-Programm gerudert", skizziert Kindlmann, der bis 2014 in
Wiesbaden als Ingenieur und Bauleiter im Straßenbau arbeitete, lachend das Ende
seiner Karriere. Rudern fasziniert ihn bis heute. "Auf dem Wasser vergisst man
einfach alles", philosophiert er. Das Gefühl des Gleitens sei unbeschreiblich,
alles geschehe in Harmonie. Harmonisch sei auch aktuell sein Verhältnis zur
Rudergesellschaft Biebrich (RWB). Nur zur Herbstregatta könne er zumeist nicht
kommen. "Die fällt immer auf den Geburtstag meines Enkels."
Besonders kritisch
beurteilt Norbert Kindlmann das Abschneiden der Ruderer vor wenigen Wochen bei
den European Championships. "Eine einzige Medaille für so einen großen Verband,
das ist mehr als beschämend." Alleine die Art und Weise, wie die jetzige
Generation technisch rudere, bestürze ihn. Sicher werden die aktuellen
Ereignisse auch beim Thema beim Nostalgietreffen des Deutschland-Achters in
Feldmoching sein. Am vergangenen Freitag besuchte man dann die Regattastrecke in
Oberschleißheim. Genau am 50. Jahrestag des Achterfinales von München. "Die
Kameradschaft aller damaliger Achter-Ruderer ist einmalig", lobt er. Drei- bis
viermal im Jahr findet ein solches Treffen statt. Kopfschütteln über das
sportliche Desaster inklusive.