Liebe Ruderkameraden vom Rüsselsheimer Ruder-Klub!
Unsere Renngemeinschaft, bzw. unsere Rudergemeinschaft Flörsheim-Rüsselsheim
hat in den 7 Jahren ihres Bestehens - von 1947 bis 1953 - 330 Siege darunter
neun deutsche Meisterschaften, errungen. Noch keinem Verein und keiner
Renngemeinschaft war es bisher möglich, in so kurzer Zeit solche Erfolge zu
erzielen. Diese einmaligen Leistungen sind jedoch nicht von selbst gekommen,
sondern konnten nur durch eine gute Kameradschaft, den richtigen Geist und ein
fleißiges Training erreicht werden. Wir wollen alle hoffen, daß es dem
Rüsselsheimer Ruder-Klub sowie auch dem Flörsheimer Ruderverein im kommenden
Jahr gelingen möge, mit ihren Jugend-, Jungmann- und Senior-Ruderern recht viele
Siege zu erringen.
Seit Bestehen der Punkttabelle hat die Rudergemeinschaft immer an erster Stelle
von den fast 400 deutschen Rudervereinen gestanden, mit Ausnahme des letzten
Jahres, wo wir auf dem 3. Platz landeten.
Und nun ein offenes Wort: Ich halte es für unsportlich und lehne es ab, wenn
sich die aktiven Ruderer nur dazu aufraffen können, Anfang April völlig außer
Kondition im Bootshaus einzutreffen, um sich bereit zu erklären, ein leichtes
Training aufzunehmen in der Erwartung, innerhalb weniger Wochen viele große
Rennen gewinnen zu können. Wenn man sich zu einem Sportler zählt und sich zu
einer Sportart entschlossen hat, so muß man sich, einerlei ob es sich um
Fußball, Leichtathletik, Boxen, Rudern usw. handelt, mit Lust und Liebe dafür
einsetzen. Wer ein richtiger Sportsmann sein will, benutzt auch seine Freizeit
dazu, seinen Körper in Kondition zu halten. Wenn ich an die schönen Sonntage der
letzten Wochen, insbesondere an den Buß- und Bettag, denke, an denen leider nur
sehr wenige zum Rudern ins Bootshaus gekommen sind, so fehlt mir jede Erklärung
zu dieser unsportlichen Einstellung. Ihr alle wißt doch, daß man sich nach dem
Training, vor alllem wenn man richtig geschwitzt hat, besonders wohlfühlt,
weshalb es mir unverständlich ist, daß nur so wenige den Weg ins Bootshaus
finden. Warum bringen wir es nicht fertig, daß an den Sonn- und Feiertagen
mehrere Mannschaften auf dem Wasser sind, insbesondere diejenigen, die im
kommenden Jahr die Absicht haben, an Rennen teilzunehmen. Wie gesagt - hier
fehlt die richtige Freude an unserem Sport, weshalb dann auch bei einem harten
Training und im Rennen die innere Kraft fehlt, das Letzte herzugeben.
Da man bei einer Mannschaft nie richtig weiß, was jeder Einzelne leistet, wurden
dem Rüsselsheimer Ruder-Klub zwei C-Einer und Skulls zur Verfügung gestellt,
damit jeder seine Leistungen prüfen und wenn notwendig steigern kann. Ich würde
es sehr begrüßen, wenn unsere Riemenruderer auch skullen könnten, da das
bekanntlich ein großer Vorteil ist. Die Boote sind so gebaut, daß jeder darin
rudern kann, ohne Angst haben zu müssen, daß er kentert. Beide Einer mit Skulls
stehen Euch zur Verfügung. Besonders denjenigen, die in Schichten arbeiten,
empfehle ich, die Boote auch werktags einmal zu bewegen.
Um einen kleinen Ansporn zu geben und einen Überblick zu haben, wurde eine
Ehrentafel angefertigt, in welche alle eingetragen werden, die in 56 Minuten,
die Strecke von der Bootshaus-Pritsche, um den Autobahn-Brückenpfeiler bei
Mönchhof herum und wieder zur Pritsche zurücklegen. In Anbetracht dessen, daß
unser 43 Jahre alter Willi Wenz diese Strecke in 51 Minuten und 17 Sekunden
bewältigt hat, hoffe ich, daß sich in den nächsten Wochen mehrere finden werden,
die diese gemütliche Zeit von 56 Minuten erreichen. Ich würde mich freuen, wenn
Euch diese Zeilen etwas aufrüttelten und Ihr Euch klar darüber werdet, daß man
nur Erfolge erzielen kann, wenn man sich mit Lust und Liebe dafür einsetzt.
Viele von Euch werden jetzt bestimmt sagen, daß sie nur in einer Mannschaft
rudern können; dies bedeutet für mich jedoch das Gleiche, als wenn z.B. ein
Tennisspieler behauptet, es wäre ihm nur möglich Vierer zu spielen oder ein
Radrennfahrer nur Tandem zu fahren.
Jede sportliche Übung, die in ihrer Dauer und Härte, d.h. in Maß und
Zeiteinheit, langsam zunehmend gesteigert wird, befähigt jeden gesunden
Organismus, über die anpassenden, regulativen Leistungssteigerungen im Herz- und
Kreislaufsystem und in den Organen zur persönlichen und sportlichen
Höchstleistung.
Das Renntraining des Ruderers ist eine Leistungsübung mit dem Ziel der
sportlichen Höchstleistung des Einzelnen und damit der Mannschaft.
Ist das Training in seinem Aufbau, d.h. in der langsam zunehmenden Steigerung in
Dauer und Härte über Monate und Jahre so gestaltet. daß es vom Organismus mit
den guten, gewünschten Anpassungsvorgängen und Organleistungssteigerungen
beantwortet wird, dann ist es die beste Körperschulung und damit der Garant für
Höchstleistungssport. Richtiges Training ist das Abfordern langsam zunehmender
Leistungssteigerung unter individueller Berücksichtigung der Konstitution bzw.
der Persönlichkeit. Die Steigerung im Aufbau des Trainings ist abhängig von der
Konstitution, dem Entwicklungsalter und den Anpassungsvorgängen des betreffenden
Ruderers.
Ist das Training in seinem Aufbau zu schnell oder zu hart. also falsch in der
Dosierung, so bleiben die guten regulativen Anpassungsvorgänge im Organismus
aus, er leidet, und das erwünschte Ziel der sportlichen Höchstleistung bleibt
aus: "Übertraining!"
Ist andererseits das Training zu lasch, unregelmäßig und ungenügend in der
Steigerung, so bleiben die Regulationsvorgänge des Organismus, besonders das
gesteigerte Leistungsvermögen des Herz- und Kreislaufsystems aus, und damit sind
die Vorbedingungen zur Höchstleistung ebenfalls nicht gegeben.
Und nun lieber Ruderkamerad liegt es an Dir zu zeigen, ob Du ein wirklich
erfolgreicher Ruderer werden willst und welche Energie in Dir steckt.
20. November 1953
Georg von Opel